Heidenau: Riesige Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge

Die sächsische Kleinstadt Heidenau steht seit einigen Tagen exemplarisch für die Anti-Asyl-Proteste in ganz Deutschland. Was bisher kaum jemand wahrnimmt, ist die immense Hilfsbereitschaft der Menschen aus der Nachbarschaft. Ein Ortstermin.

 

von Tom Waurig

Unaufhörlich surren die Telefone beim Verein Aktion Zivilcourage. Am anderen Ende der Leitung meldet sich gerade ein älterer Mann aus der Sächsischen Schweiz. Er will seine Hilfe anbieten: Immer mittwochs könne er in der Erstaufnahmeeinrichtung im sächsischen Heidenau Deutschkurse anbieten, um die vielen hundert Flüchtlinge, die seit vergangenem Samstag in dem ehemaligen Praktiker-Baumarkt wohnen, mit der Sprache ihrer neuen Heimat vertraut zu machen.

Parallel treffen beharrlich neue E-Mails ein. Es ist der vierte Tag in Folge, an dem die Welle der Hilfsbereitschaft nicht abebbt. Hier zeigt sich ein ganz anderes Bild von „Sachsen in Dunkeldeutschland“.

Gefühl der Verantwortung

Was abseits der Debatten um Hass, Politikversagen und Rowdytum kaum jemand sieht ist die immense Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Wie überall in Deutschland ist das Engagement rund um neue und bestehende Flüchtlingsheime groß.
In einer Region, die wieder einmal so arg in den Fokus der Berichterstattung geraten ist wie seit Jahren nicht mehr, sind diese Wohltäter umso entscheidender.

Es macht deutlich, dass sich die Einheimischen nicht mit der derzeitigen Situation abfinden wollen. „Dafür stehen wir nicht“, empört sich eine Anruferin über die Ausschreitungen unweit von Dresden. Viele Bürger wissen, dass sie es nun selbst in der Hand haben, welcher Umgang mit Flüchtlingen sich im Osten des Freistaates etabliert. Die Pflicht zur Aufnahme der Asylsuchenden wird sich auf kurz oder lang nicht ändern.

Hilfe von allen Seiten

Gleich am Sonntagmittag, nach den zwei Krawallnächten in der sächsischen Kleinstadt, haben sich das Deutsche Rote Kreuz und der im benachbarten Pirna ansässige Verein Aktion Zivilcourage über die Koordinierung möglicher Helfer verständigt. Wie viele es werden, konnte und wollte keiner von ihnen prognostizieren. Seit der Veröffentlichung des Hilfe-Aufrufs am Montag stehen die fünf Telefone in der Geschäftsstelle des Vereins nicht mehr still.

Ramona Meisel scrollt durch die 240 E-Mails der letzten Tage. Um alle zu lesen und zu beantworten dauert es. Viele Menschen, die zu großen Teilen aus Heidenau selbst oder der näheren Umgebung kommen, wollen sich ehrenamtlich um die Kinderbetreuung kümmern. Unter den Heimbewohnern sind viele Familien aus Syrien und dem Irak.

Beinahe mehr Spenden als Bedarf

Über 200 Angebote sind zudem auf dem Portal www.ichhelfe.jetzt eingegangen, das der Dresdner Arzt Johannes Bittner programmiert hat, um die Koordinierung zu erleichtern. Wieder andere stehen in der Bürotür oder melden sich über die vereinseigene Facebook-Seite, um ihre Hilfsbereitschaft zu signalisieren. Nach gut 48 Stunden haben die Verantwortlichen den Zeitspendenaufruf vorerst stoppen müssen, weil der Bedarf gar nicht dem immensen Spendenaufkommen entspricht.

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Kleiderkammer des DRK. Auf fünf Regaletagen werden die Sachen verstaut und mehrmals täglich nach Heidenau transportiert. Vier Helfer sind ununterbrochen damit beschäftigt, die Sachspenden zu sichten und zu ordnen. Wirklich hinterher kommen sie nicht mehr. Auch Heidenaus Schulen sammeln Unterrichtsmaterial, um Solidarität zu zeigen.

Zeit-Spenden nehmen zu

Auch wenn die Hoffnung groß war, erwarten konnte diese Welle der Hilfsbereitschaft keiner, auch die Organisatoren selbst waren eher skeptisch. Nun kommen Ramona Meisel und ihren Kollegen die über viele Jahre gewachsene Struktur der Aktion Zivilcourage zugute, mit Krisensituationen professionell umzugehen.

Kleider- und Geldspenden sind das eine, seine freie Zeit zu opfern eine andere Dimension. Laut einer Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung ist die Zahl der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer in den letzten drei Jahren um gut 70 Prozent gewachsen. Die Freiwilligen treiben nicht nur die Einzelschicksale an, sondern auch das Bedürfnis, die „Gesellschaft mitzugestalten“. Nur 3,5 Prozent versprechen sich hingegen berufliche Vorteile. Das gilt auch für die Heidenauer Helferschar, bestätigen die Koordinatoren.

Zeigen, dass es in Heidenau anders geht

Heute geht es endlich los. Eine arabische Muttersprachlerin wird in der Erstaufnahmeeinrichtung erwartet, um die Vermittlung zwischen DRK-Helfern und Flüchtlingen zu unterstützen. Vom ersten Kontakt bis zum eigentlichen Einsatz dauert es seine Zeit. Weil es sich im Fall von Heidenau um eine Erstaufnahmeeinrichtung handelt, sind die Sicherheitsvorkehrungen deutlich höher als in anderen Unterkünften. Besonders die Registrierung bedeutet einen hohen Aufwand. Um das alles zu regeln, braucht es auch den guten Willen der Helfer. Deshalb suchen die Koordinatoren Meisel und Becker regelmäßige Angebote.

Ausnahmen bestätigen die Regel: Kurzerhand wird der Baumarkt zur Theaterbühne umfunktioniert. Am Nachmittag führt die Gruppe „Illustrakt“ fünf Mal nacheinander die Bremer Stadtmusikanten in englischer Sprache auf. Das Licht- und Schattentheater aus Dresden will allen 530 Flüchtlingen ein angemessenes, wenn auch nachträgliches „Willkommen“ bereiten. Alle wollen zeigen, dass es in Heidenau anders geht. Täglich werden es mehr.

Fotos: Aktion Zivilcourage, Thomas Kunsch

Diesen Beitrag erhielten wir von www.couragiert-magazin.de Vielen Dank!

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