So werden Online-Kampagnen wirkungsvoll

Ben Rattray ist Geschäftsführer und Gründer der Petitions-Plattform change.org. Im Interview mit Paul Stadelhofer vom Fundraiser-Magazin spricht er über die Anfänge und das Geschäftsmodell des weltweit agierenden Unternehmens, Erfolgsfaktoren bei Kampagnen und wie ein 15-jähriger Teenager einen US-Konzern in die Knie zwang.

 

Teil 1: Die Anfänge von change.org

Wann kamen Sie auf die Idee zu change.org? Wie haben Sie das Projekt gestartet?

Das war in Washington, D.C., direkt nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte. Ich habe aus direkter Erfahrung miterleben müssen, dass es für den normalen Bürger unmöglich ist, im Rahmen seiner eigenen Politik eine Stimme zu haben. Als Reaktion darauf wollte ich mich an einer juristischen Fakultät einschreiben, um mit einer Menge „jungem amerikanischem Idealismus“ Anwalt des öffentlichen Rechts zu werden. Ich wollte mit dem, was ich tue, Veränderungen herbeiführen.
Es endete damit, dass ich eine E-Mail-Adresse bekam, sodass ich Zugang zu Facebook erhielt. Ich sah sofort, wie diese Technologie Menschen miteinander vernetzte. Mich begeisterten diese technologischen Möglichkeiten, aktiv politische Barrieren einzureißen, zusammenzukommen und damit etwas zu erreichen, das vorher einfach nicht möglich war.

Wie begannen Sie dann mit change.org?

Ich ging zurück ins Silicon Valley und fragte alle meine Freunde nach einem technischen Mitbegründer, den sie mir empfehlen würden. Jeder nannte denselben: Mark Dimas. Ich traf ihn dann 2005 am Strand bei einer Hochzeit von Freunden. Er war zu Anfang dagegen, aber ich ließ nicht locker, bis er schließlich eingewilligt hat. Wir gründeten die Organisation gemeinsam. Ich zog 2006 direkt zurück ins Silicon Valley und wir starteten change.org.

Wie lief das die ersten Jahre?

Die ersten beiden Jahre waren ein Desaster. Im dritten und vierten Jahr hatten wir erste Erfolge. Tatsächlich hatten wir nur eine Million User nach dem vierten Jahr. Als wir aber 2010 das Geschäftsmodell überholt und hin zu selbst erstellbaren Petitionen verändert hatten, begannen wir ziemlich schnell zu wachsen. Schon 2013 erreichten wir 35 Millionen Benutzer und liegen heute bei 80 Millionen Usern weltweit.

Teil 2: Das Geschäftsmodell von change.org

Welches Geschäftsmodell verfolgten Sie damals?

Wir hatten zwei unterschiedliche Modelle. Zuerst dachten wir, wir könnten direkt online Gelder sammeln. Wir haben die Leute gebeten, die Möglichkeit eigener Fundraising-Kampagnen zu nutzen, zu bloggen oder sich selbst als Freiwillige zu organisieren. Dann kamen wir auf den Gedanken, dass viele NGOs gern Zugang zu Menschen hätten, die selbst die Chance ergreifen würden, ihre eigenen Kampagnen zu starten. Das war der Anfang.

Wie machen Sie heute mit der Plattform Geld?

Wir gingen einfach auf Organisationen wie Oxfam, WWF oder UNHCR zu, und diese zahlen einen Betrag, damit ihre Petitionen auf unserer Plattform unterstützt werden. Diese Petitionen werden Usern zugänglich gemacht, die sich für die jeweilige Sache interessieren. Wenn man dann die Option anklickt „Ja, ich möchte mehr über diese NGO erfahren“, kann die Organisation den Interessenten kontaktieren. Die NGO zahlt uns dann einen Betrag für die Unterstützung ihrer Kampagne und für potenzielle Unterstützer.

Betrachten Sie die Anzahl von etwa 20.000 Petitionen pro Monat inzwischen als Erfolg?

Wir sehen Fortschritte. Wir können Menschen bemächtigen, jeden Tag Veränderungen zu schaffen. Und wir sehen immense Möglichkeiten, den Einfluss, den die engagierten User bereits ausüben, deutlich auszubauen.

Teil 3: Das unterschiedliche Engagement in verschiedenen Ländern

Nehmen Sie bereits Veränderungen in einzelnen Ländern wahr?

Tatsächlich interessant sind die Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Ländern. Entsprechend unserem Modell heuerten wir 2012 Leute in 18 Ländern an. Wir sahen dann, dass die Menschen weltweit in der gleichen Weise wie in den USA zusammenkamen, um sich zu mobilisieren und Veränderungen zu erreichen.
Die Belange unterscheiden sich leicht von Land zu Land. Jedes Land hat Kampagnen für den Umwelt- und Tierschutz oder gegen Armut. In Deutschland engagieren sich die User speziell für Frauenrechte und die Reduzierung von Verpackungen. Die umfangreichste Bewegung beschäftigt sich aber mit Korruption. Das ist das größte Thema in Brasilien, Indien, Indonesien und auf den Philippinen. In den nördlichen Ländern nicht so sehr.

Wo haben Sie die meisten User?

Wir haben etwa 30 Millionen User in den USA, etwa 30 Millionen in Europa und ungefähr 20 Millionen im Rest der Welt. Diese Zahlen wachsen schnell. Die Mehrheit der User wird außerhalb der westlichen Länder zu finden sein, dort werden es stetig mehr.

Was meinen Sie, wie das kommt?

Wegen der höheren Bevölkerungszahlen. Zudem entwickeln wir uns in der Verbreitung ähnlich wie Facebook und Twitter. Bei ihnen begann es in den USA und Europa, und die höheren Zahlen haben sie in den anderen Ländern erreicht.

Teil 4: Beispiele für erfolgreiche Kampagnen

Was hat sich hinsichtlich der Petitionen in den letzten Jahren bei change.org verändert?

Mittlerweile sehen wir eine enorme Bandbreite an Themen auf unserer Seite. Praktisch alles, was in der Gesellschaft geschieht, wird auf change.org reflektiert. Die deutlichste Verschiebung findet sich wohl darin, dass die User ihre Petitionen jetzt auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene betreiben. Die nehmen ihre Lokalpolitiker in die Verantwortung oder schließen sich anderen Petitionsführern an, um weltweit Einfluss auf Entscheidungsträger auszuüben.

Können Sie ein, zwei Beispiele für erfolgreiche Kampagnen nennen?

Es gibt eine Chemikalie, die sich BVO nennt. Das ist bromiertes Pflanzenöl, das in Europa verboten ist, bislang aber in den USA erlaubt war. Die Softdrink-Industrie hat sich in den USA sogar aktiv dafür eingesetzt, dass die Bundesbehörde zur Überwachung von Nahrungs- und Arzneimitteln diesen Giftstoff gar nicht erst untersucht. Es war ein 15-jähriges Mädchen, das beschloss, eine Petition zu starten, um eine richtig große Marke, nämlich Gatorade, dazu zu bringen, die Chemikalie aus ihren Getränken zu verbannen. Die Kampagne erhielt 115.000 Unterstützer, sie war in unterschiedlichen Medien, unter anderem in der New York Times, und nach ein paar Wochen hat der Konzern tatsächlich beschlossen, BVO nicht mehr in seinen Getränken zu verwenden.
Als Reaktion darauf starteten viele andere junge User ähnliche Kampagnen gegen Powerade, Fanta, Coca Cola und Pepsi, um sie dazu zu bewegen, BVO nicht mehr in ihren Getränken zu verwenden. Nach einem Monat aktiven Campagnings und hunderttausenden weiterer Unterstützer nahmen die Konzerne das Pflanzenöl komplett aus den Inhaltsstoffen.
Das Interessante daran ist, was ein Politiker zu mir sagte: „Wir haben dafür seit mehr als zehn Jahren gekämpft, und es braucht nur ein 15-jähriges Mädchen, um die Sache mit einer Petition innerhalb eines Monats zu klären.“ Bemerkenswert ist dabei, dass die Initiative auf nationalem Niveau gekämpft hatte. Nicht der nationale, sondern der lokale Zugriff hat zusehends stärkere Auswirkungen.

Haben Sie die jungen Leute unterstützt?

Wir unterstützen die User nicht direkt. 95 Prozent derer, die eine Petition starten, hören nichts von uns. Kampagnen werden gestartet, und wenn sie eine gewisse Dynamik entwickeln und etwa auch in den Medien landen, oder wenn ein User einen besonderen persönlichen Hintergrund hat, entscheiden wir in einem redaktionellen Prozess, welche Kam­pagne wir weiter fördern. Wir nehmen dann Kontakt zu dem jeweiligen User auf, um sicherzustellen, dass er oder sie den umfassenden Service erhält, den wir anbieten. Wir treten aber nicht für eine Kampagne ein.

Überprüfen Sie die Kampagnen, die gestartet werden?

Wenn jemand eine virale Kampagne betreibt, die wirklich zieht, dann fragen wir, ob Hilfe benötigt wird. Wir spielen also eine Rolle als Ratgeber und Unterstützer, aber nicht als Werbetreibende. Change.org ist eine offene und neutrale Plattform, wo jeder eine Petition starten kann. Unsere AGBs verbieten jede Form von Diskriminierung.

Teil 5: Das Erfolgsrezept wirkungsvoller Kampagnen

Worauf kommt es bei einer erfolgreichen Kampagne an?

Sie müssen so exakt wie möglich sein und eine Chance sehen, die Kampagne zu gewinnen. Die Wahl Ihres Kampagnengegenstandes ist enorm wichtig. Die zweite Sache ist die Wahl Ihres „Angriffsziels“ und des Entscheidungs­trägers. Das ist nicht zwangsläufig ein Regierungsmitglied, sondern eben mitunter ein lokaler Vertreter, nicht unbedingt die Industrie im Allgemeinen, sondern ein konkretes Unternehmen. Es geht ganz klar darum, ein deutlich umrissenes Ziel zu finden, das erreichbar ist. Finden Sie eine wirksame Geschichte, warum Ihnen die Sache am Herzen liegt. All diese Dinge haben wir als die effektivsten erlebt.

Keine Testimonials?

Es ist eher die individuelle Geschichte des Users, die in den meisten Fällen am stärksten wirkt. Die Menschen finden den Zugang nicht über abstrakte Beschreibungen, Zahlen oder Grundsätze. Wenn Sie in der Lage sind, eine Geschichte zu erzählen, die das Leben der Menschen betrifft, dann ziehen sie damit auch Unterstützer an. Es geht weniger darum, was wir wollen, sondern darum, worauf die Menschen reagieren.

Wenn unsere Leser eine Petition starten wollen, wie sollten sie dann eine solche Geschichte schreiben, um so viel Unterstützung wie möglich zu erhalten?

Eins der größten Missverständnisse ist, dass der Kampagnen-Gegenstand riesig sein und eine Unmenge an Leuten ansprechen muss. Wir sehen eher das Gegenteil. Sie müssen konkret sein und ein erreichbares Ziel haben. Das macht die ganze Sache einnehmender und interessanter.
Wenn Sie als Organisation eine Petition starten wollen, dann haben Sie zwei Möglichkeiten: Entweder Sie gehen die Sache organisch an, indem Sie ein ganz klares Ziel ansteuern. Oder Sie gehen den Weg einer bezahlten Kampagne, die dann auch allgemein sein kann. Auf alle Fälle ist es wichtig, dass Sie Kontaktinformationen zur Verfügung stellen, damit Ihnen Interessenten auch weiter folgen können.

Foto: privat

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