„Meine Familie sind die SOS-Kinderdörfer“

Er selbst wuchs ohne Eltern auf, sein Leben widmete er Kindern in Not: In Hunderten SOS-Kinderdörfern rund um den Globus gab Helmut Kutin ihnen eine Familie. Im November 2015 zog er sich nach 29 Jahren aus der Führung der SOS-Kinderdörfer zurück. Für das Fundraiser-Magazin sprach Peter Neitzsch mit dem „Großvater der Bewegung“ über die Aufbauarbeit vor 50 Jahren und die Herausforderungen von heute.

  Herr Kutin, Ihr Lebenswerk sind die SOS-Kinderdörfer. Allein 26 Jahre waren Sie Präsident des Dachverbands SOS-Kinderdorf International. Aber Sie sind auch selbst in einem Kinderdorf aufgewachsen. Das erste der Welt im österreichischen Imst. Wie war das Leben dort als Waise in der Nachkriegszeit?
Das Leben war einfach, aber mit viel Familiensinn. Die Familien in dem SOS-Kinderdorf haben sich mit bescheidenen Mitteln über Wasser gehalten. Damals lebten noch in jedem Haus zehn Kinder. Das wäre heute undenkbar, aber es war eben eine andere Zeit. Mittlerweile leben in europäischen Kinderdörfern maximal sechs Kinder in einem Haus. Das ist auch nötig, weil jedes einen Rucksack voller Probleme mitbringt und individuelle Betreuung braucht.

  Wie kam es dazu, dass Sie sich nach Ihrer Jugend weiter für die SOS-Kinderdorf-Bewegung engagiert haben?
Ich wurde kurz vor meinem 13. Lebensjahr im SOS-Kinderdorf aufgenommen. Nicht das Jugendamt oder irgendeine Behörde, sondern meine beiden Cousinen hatten mich 1953 Hermann Gmeiner vorgestellt und ihn gebeten, mich aufzunehmen. Nach einer kurzen Zeit im Kinderdorf Imst bekam ich einen Platz in einer Einrichtung für Jugendliche in Innsbruck. Ich habe dann Tourismus studiert, das war zu der Zeit in Tirol die beste Möglichkeit für junge Leute. Eines Tages hat mich Hermann Gmeiner angerufen und gesagt, er braucht Unterstützung, um ein SOS-Kinderdorf in Vietnam aufzubauen. Das war 1967. Ich habe mich dann entschieden, diese Aufgabe zu übernehmen.

  Wie war Ihre Beziehung zu Hermann Gmeiner, dem Gründer der SOS-Kinderdörfer? War er Freund oder eher Mentor?
Hermann Gmeiner war für mich anfangs vor allem eine große Respektsperson. Er war ja auch der Leiter des ersten SOS-Kinderdorfs. Später entstand dann zwischen uns eine Freundschaft und auch eine Interessengemeinschaft: Wir hatten dieselben Ideen und teilten dieselben Grundwerte. So haben wir uns gegenseitig unterstützt und einander geholfen. Aber es war auch gut, dass ich weit weg war: er hier in Europa und ich in Asien. Denn sonst wären wir uns sicher in die Quere gekommen: Wir waren beide sehr temperamentvoll. Wenn es um die Sache ging, konnte es zu ziemlichen Auseinandersetzungen kommen. Aber wir haben uns immer verziehen.

  Sie sind dann 1968 nach Vietnam gegangen, um dort ein Kinderdorf aufzubauen. War das der Beginn der Expansion der Kinderdorfbewegung in andere Länder?
Das war die größte Expansionswelle in der Geschichte der SOS-Kinderdörfer. In Saigon wollten wir damals das größte Kinderdorf der Welt aufbauen und haben das auch getan – mit 40 Familienhäusern. Das war, an heutigen Grundsätzen gemessen, viel zu groß. Trotzdem war das eine gewaltige SOS-Kinderdorf-Familie, geboren aus einer Notsituation und aus dem gemeinsamen Erlebnis des Krieges. Leider musste das Dorf 1976 nach dem Einmarsch der nordvietnamesischen Truppen aufgegeben werden, und ich musste das Land verlassen.

  Hatten Sie Gelegenheit, an Ihre alte Wirkungsstätte zurückzukehren?
Erst zehn Jahre später bin ich in das alte Dorf zurückgekehrt. Von der neuen vietnamesischen Regierung habe ich mir erbeten, die beiden ehemaligen Kinderdörfer zurückzubekommen. Das war eine Bedingung dafür, dass wir danach auch in Hanoi gebaut haben und heute mit 18 SOS-Kinderdörfern in Vietnam vertreten sind.

  Sie waren einer der letzten westlichen Ausländer, der während des Vietnamkriegs das Land verlassen hat. Wissen Sie, was mit den Kindern geschehen ist, die zurückblieben?
Das ist meine engste Familie! Die Kinder von damals sind heute 50 bis 55 Jahre alt, und wir sind immer noch in Verbindung. In all den Jahren konnte ich diesen jungen Menschen in einer schwierigen Zeit helfen. Anfangs auf verbotenen Wegen, später auch wieder offiziell. In den 80er Jahren gab es die große Flüchtlingswelle aus Vietnam. Auch einige meiner ehemaligen Schützlinge leben heute in Amerika, Australien und auch in Österreich. Aber der Großteil der 500 Kinder ist in Vietnam geblieben. Das ist eine sehr große Familie

  Sie haben dann von Bangkok aus die Kinderdörfer in Asien geleitet. In den 80er Jahren entstanden sogar zwei Dörfer in der Volksrepublik China. War dafür viel Überzeugungsarbeit nötig?
Das Angebot, die beiden Kinderdörfer in China aufzubauen, wurde von einer Sozialministerin an uns herangetragen, die etwas über unsere Bewegung gelesen hatte. Die chinesische Botschaft in Wien holte zuerst Erkundigungen über uns ein. Dann wurden wir 1985 in das Land eingeladen. Auf Regierungsebene gab es da sicher auch eine gewisse Skepsis, aber die Bevölkerung war begeistert. Unsere ersten Mitarbeiter waren hoch engagierte und motivierte Leute, die sich riesig gefreut haben, einmal etwas anderes tun zu dürfen. Seitdem hat sich viel geändert: China ist mittlerweile eine Wirtschaftsmacht.

  Mittlerweile gibt es über 560 Kinderdörfer in 134 Ländern, aus der kleinen Bewegung wurde eine internationale NGO. Wie hat das die Arbeit der Organisation verändert?
Aus uns wurde eine große Organisation, dank vieler Spender und Freunde – insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch aus Norwegen, Schweden, Dänemark, Holland und Frankreich. Die Unterstützung aus Deutschland hatte einen wesentlichen Anteil an der weltweiten Expansion vor über 20 Jahren. Heute fordern wir, dass Schwellenländer wie Indien, China oder Thailand selbst die nötigen Mittel aufbringen, um für ihre Kinder zu sorgen. Das klappt immer besser. Auch in China gibt es staatliche Subventionen, aber noch in sehr geringem Umfang. Wir sind der Meinung: Wer auf der ganzen Welt Stadien baut, muss auch für seine Kinder Sorge tragen.

  Die Regierungen in die Pflicht zu nehmen, ist eine Aufgabe. Vor welchen anderen Herausforderungen steht die SOS-Kinderdorf-Bewegung?
Schauen Sie, die Weichenstellungen für die Zukunft übernimmt eine neue Generation. Ich bin nur noch als Großvater im Hintergrund. Die finanziellen Aufwendungen für den Unterhalt unserer Dörfer haben vor allem in den ärmsten Ländern wegen der hohen Teuerungsrate enorm zugenommen. In Afrika sind vielerorts die Lebensmittelpreise in die Höhe geschossen. Das macht es für die Kinderdorf-Mütter extrem schwierig. Aber auch für uns in Europa: Wir müssen immer mehr Mittel bereitstellen.

  Viele Schwellenländer in Asien und Südamerika haben sich rasant entwickelt. Welche konkreten Probleme gibt es dort heute?
Die größte Herausforderung besteht darin, den Jugendlichen eine Perspektive und eine Arbeitsstelle zu vermitteln. Dafür braucht es gute Schulbildung. In den ärmeren Ländern Asiens haben wir deshalb eine Vielzahl von Herrmann-Gmeiner-Schulen errichtet. Das ist auch in vielen afrikanischen Staaten die größte Herausforderung: Wir müssen die jungen Menschen davon abbringen, sich wie viele andere auf den Weg durch die Wüste zu machen, um in Nordafrika ein Boot nach Europa zu ergattern. Aber solche Programme kosten eine Menge Geld.

  Wie hat sich die Situation in Afrika verändert? Geht auch hier der Fokus weg von der Nothilfe hin zur Bildungsarbeit?
Die Lage ist in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. In Ghana gab es zum Beispiel ein furchtbares wirtschaftliches Durcheinander, aber jetzt hat sich das Land weitgehend gefangen, und es gibt Perspektiven. In der unmittelbaren Nachbarschaft ist das zum Teil ganz anders: In Liberia, Sierra Leone, Guinea-Bissau sind kaum Verbesserungen festzustellen. Durch die Ebola-Krise haben diese Staaten zum Teil noch zusätzlich gelitten. In all diesen Ländern haben unsere Schulen einen besonderen Stellenwert, nicht nur für die Kinder aus dem SOS-Kinderdorf, sondern für die ganze Nachbarschaft. Viele arme Länder Afrikas haben noch einen weiten Weg vor sich.

  Sie waren teilweise 300 Tage im Jahr und mehr unterwegs, haben Einrichtungen besucht und für Ihre Sache geworben. Haben Sie nie daran gedacht, eine eigene Familie zu gründen?
Meine Familie sind nur die SOS-Kinderdörfer. Darum bin ich jetzt auch Großvater dieser Familie. Das ist in wenigen Worten nicht zu erklären und nicht ganz einfach verständlich. Aber so ist es. Das war mein Leben und das wird mein Leben bleiben, bis der Tag und die Stunde kommt.

  Sie haben Ihre Ämter abgegeben, aber an den Ruhestand denken Sie noch nicht, oder?
Na, das noch nicht. Ich fliege am Montag wieder weg und bin froh darüber. Ich gehe zuerst nach Thailand, dann nach Bangladesch und weiter nach Sri Lanka und Indien – und dann muss ich irgendwann wieder zurück nach Europa. Außerdem habe ich noch eine Reise nach Afrika geplant, um die Länder der Ebola-Krise noch einmal aufzurütteln. Das kommende Jahr ist also gut ausgebucht, sofern es meine Gesundheit zulässt.

 www.sos-kinderdoerfer.de/informationen

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