Abgeordnetenwatch.de: „Wir wollen Handlungsdruck erzeugen“

Sie verklagen den Bundestag, dokumentieren Nebeneinkünfte von Volksvertretern und zwingen Politiker dazu, Stellung zu beziehen: Das Portal abgeordnetenwatch.de ist der Kettenhund der Zivilgesellschaft. Für das Fundraiser-Magazin sprach Peter Neitzsch mit Martin Reyher (Foto rechts) und Frederik Röse. Im Interview verraten sie, wie Kleinspender ihnen helfen, unabhängig zu bleiben.

 

Vom regionalen Projekt bis zum Europaparlament

Das Portal abgeordnetenwatch.de wurde vor der Hamburg-Wahl 2004 gegründet. Wie kam es dazu?

Frederik Röse: Damals wurde in Hamburg ein neues Wahlrecht eingeführt, das den Wählern mehr Einfluss gab auf die Auswahl der Kandidaten. Die Gründer von abgeordnetenwatch.de waren stark in die Kampagne involviert, die schließlich zur Wahlreform führte.

Martin Reyher: Die Idee war dann, zu sagen: Wenn es so viele Auswahlmöglichkeiten gibt, müssen die Wähler auch wissen, wer die Kandidaten sind und wofür sie stehen. So entstand die Idee zu einem Online-Portal, auf dem Bürger ihre Politiker befragen können.

 

Wie wurde die neue Plattform angenommen?

Reyher: Das Projekt lief in Hamburg recht gut an. Anfangs waren die Abgeordneten natürlich erst mal zögerlich: Was kommen da für Fragen? Ist das viel zusätzliche Arbeit für uns? Wer steckt eigentlich hinter abgeordnetenwatch.de?

Röse: Aber mit der Zeit haben die Politiker auch gesehen, dass es für sie einen Mehrwert hat, direkt mit den Bürgern in Kontakt zu treten. Indem Fragen und Antworten öffentlich gemacht werden, können sie ja viel mehr Menschen erreichen als in einer Bürgersprechstunde.

 

Vor zehn Jahren folgte dann der Schritt auf die Bundesebene.

Reyher: Am Anfang war das ein rein ehrenamtliches Projekt. 2005 kam der Bundestag dazu und 2010 das Europaparlament. Da war recht schnell klar, dass es auf ehrenamtlicher Basis nicht mehr weitergeht. Wir haben uns deshalb weiter professionalisiert: Mittlerweile sind wir zehn feste Mitarbeiter plus Freiwilligendienstleistende und Praktikanten.

Röse: Bürger können die Kandidaten bereits im Wahlkampf befragen. Nach einer Wahl können sie sich dann an die Abgeordneten wenden – jedenfalls wenn die Finanzierung für das Parlament steht. Um einen Landtag für eine Wahlperiode zu betreuen, benötigen wir ein Startkapital von 10.000 Euro und hundert Fördermitglieder in diesem Bundesland. Für elf der 16 Landtage ist uns das bislang gelungen.

Reyher: Es gibt auf der Plattform inzwischen um die 175.000 Fragen und 140.000 Antworten. Das ist ein gigantisches Archiv: Wir nennen abgeordnetenwatch.de deshalb auch „digitales Wählergedächtnis“. So kann jeder sehen, was ein Politiker im Wahlkampf versprochen hat und wie er nach der Wahl abgestimmt hat.

Fragenflut und zehntausende Unterschriften

Wer entscheidet, welche Frage veröffentlicht wird?

Röse: Die Fragen an die Politiker werden von einem Pool freier Mitarbeiter moderiert. Grundsätzlich werden Fragen auch veröffentlicht, es sei denn, sie verstoßen gegen unseren Moderationskodex. So sind reine Meinungsäußerungen nicht zulässig. Auch Sexismus und Rassismus sind ganz klar tabu. Wenn eine Frage schon gestellt wurde, verweisen die Moderatoren darauf.

 

Antworten denn alle Abgeordneten auf die Fragenflut?

Röse: Die meisten Abgeordneten nehmen sich die Zeit, die Fragen zu beantworten. Natürlich gibt es auch einige, die den Dialog völlig verweigern, aber im Schnitt werden über 80 Prozent der Fragen beantwortet. Manche Politiker werben sogar mit ihrer hohen Antwortquote und verschicken dazu eine Pressemitteilung.

Reyher: Manchmal wird eine Frage auf abgeordnetenwatch.de auch zum Anlass genommen, um eine parlamentarische Anfrage zu stellen. Da kennt der Abgeordnete die Antwort selbst nicht und reicht die Frage an die Bundesregierung weiter. Hans-Christian Ströbele von den Grünen macht das häufiger. So gelangen Impulse von den Bürgern ins Parlament.

 

Wie hat sich das Portal seit der Gründung verändert?

Reyher: Die Frage-Antwort-Plattform stand am Anfang. Später haben wir begonnen, uns in einem Rechercheblog mit den Themen Lobbyismus, Parteispenden und Nebentätigkeiten zu beschäftigen. So haben wir 2010 als Erste öffentlich gemacht, dass der frühere Finanzminister Peer Steinbrück als Abgeordneter zwar viel gegen Honorar außerhalb des Bundestages geredet hat, aber wenig im Parlament selbst.

Röse: Wir wollen auf Missstände hinweisen und Handlungsdruck erzeugen. Zum Beispiel haben wir den Bundestag mit einer Petition aufgefordert, endlich die UN-Konvention gegen Korruption umzusetzen. Die Petition wurde von 50.000 Menschen unterzeichnet. Dadurch kam nach zehn Jahren Stillstand wieder Bewegung in die Sache und es wurde ein Gesetz gegen Abgeordnetenbestechung beschlossen.

 

Neu ist auch der Petitions-Check – was steckt dahinter?

Reyher: Oft wissen die Bürger gar nicht, wie ihre Abgeordneten zu bestimmten Themen stehen, selbst wenn das öffentliche Interesse groß ist. Deshalb haben wir gesagt: Wenn eine Online-Petition die Entscheidungskompetenz des Bundestags betrifft und mehr als 100.000 Unterschriften hat, wollen wir herausfinden, wie die Parlamentarier das sehen. Dafür geben wir zuerst eine repräsentative Meinungsumfrage in Auftrag. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung das Anliegen unterstützt, fragen wir die Abgeordneten nach ihrer Haltung dazu.

 

Gibt es schon eine konkrete Petition?

Reyher: Unser Pilotprojekt ist eine Petition, die ein vollständiges Verbot von Fracking fordert. Der Bundestag dagegen will Fracking unter bestimmten Bedingungen erlauben. Die Petition wurde von mehr als 185.000 Menschen unterschrieben – eine Umfrage ergab, dass 61 Prozent der Deutschen für ein Komplettverbot sind. Wir haben die Fragestellung dann an die Volksvertreter weitergegeben, damit jeder Bürger sehen kann, wie sein Abgeordneter dazu steht.

Finanzielle Unabhängigkeit durch Kleinspender

Wie finanzieren Sie diese Arbeit – durch Spenden oder durch Fördermittel?

Röse: Unser Startkapital war ein Darlehen bei Bonventure, einem Fonds für soziale Verantwortung, und ein Kredit bei der GLS-Bank. Seitdem finanzieren wir uns vor allem über Kleinspenden und Fördermitgliedschaften. Am Anfang haben wir es auch mal mit Werbung versucht, aber das hat sich langfristig nicht gelohnt.

Reyher: In Wahlkampfzeiten können die Kandidaten außerdem gegen einen kleinen Betrag ihr Profil um ein Foto oder Zusatzinformationen erweitern und sich so an den Kosten für das Projekt beteiligen.

 

Betreiben Sie auch gezielt Fundraising?

Röse: Unser Fundraising ist immer projektabhängig. In diesem Jahr kümmern wir uns vor allem um den Ausbau der Spenderbasis. Mehr als 2.000 Menschen fördern uns mit durchschnittlich neun Euro im Monat. Monatlich kommen so rund 18.000 Euro zusammen – das ist mehr als die Hälfte unserer Ausgaben. Anders bei der Geburtstagskampagne im vergangenen Jahr: Da haben wir uns darauf konzentriert, 100.000 Euro für drei ganz konkrete Projekte zu sammeln.

 

Was haben Sie gemacht, um diese Summe einzuwerben?

Röse: Wir haben den zehnten Geburtstag von abgeordnetenwatch.de zum Anlass für eine Kampagne genommen, auf die wir regelmäßig in Mailings hingewiesen haben. Auf unserer Website hatten wir eine Chronik der Erfolge: Immer, wenn 10.000 Euro gespendet wurden und damit ein Zwischenziel erreicht wurde, haben wir ein weiteres Jahr der Chronik freigeschaltet. Auch Telefonfundraising war Teil der Kampagne: Dafür haben wir Unterstützer angerufen, die sich bereits für ein bestimmtes Thema interessiert haben.

Reyher: Letztlich haben wir das Ziel dann auch mit Hilfe von Stiftungsanträgen erreicht. Als Ergebnis der Kampagne konnten wir zum Beispiel den Petitions-Check finanzieren. Außerdem wollen wir eine App entwickeln, die den Nutzer über Nebentätigkeiten und Abstimmungsverhalten seiner Abgeordneten informiert.

 

Welche Anreize bieten Sie Ihren Unterstützern?

Reyher: Wir wollen vor allem zeigen, worin der gesellschaftliche Mehrwert des Portals besteht. Mit Blick auf Lobbyismus oder Korruption können wir Druck machen. Politiker sollen sagen: Wir bekommen ständig negatives Feedback von unseren Wählern, wir müssen da jetzt etwas machen. Diese Watchdog-Funktion ist ein wichtiger Aspekt von abgeordnetenwatch.de.

 

Hat es einen bestimmten Grund, dass Sie vor allem auf Kleinspender setzen?

Röse: Das größte Argument dafür ist die finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit. Wenn Großspender wegfallen, hinterlassen sie auch eine große Lücke. Dasselbe geschieht, wenn eine Stiftung die Förderung einstellt. Wenn uns dagegen ein normaler Förderer nicht mehr unterstützt, reißt das nicht gleich ein großes Loch ins Budget.

Reyher: Viele sagen: Eigentlich müsste doch der Bundestag so eine Plattform finanzieren. Aber dann würden die Politiker auch darüber entscheiden, ob die Finanzierung verlängert wird. Einmal sagte ein Abgeordneter halb im Scherz: Euch sollte man die Fördermittel kürzen, aber ihr werdet ja gar nicht von uns gefördert.

Transparenz bei Parteispenden gefordert

Die Abhängigkeit von Großspendern kritisieren Sie auch bei Parteispenden. Was müsste sich da ändern?

Reyher: Großspender sind ja meist Unternehmen, die darauf ausgelegt sind, Gewinne zu machen. Wenn eine Firma Geld an eine Partei spendet, ist das aus der Unternehmenslogik nur zu rechtfertigen, wenn es dafür eine Gegenleistung gibt. Das darf bei einer Parteispende aber niemals der Fall sein, sonst bewegen wir uns im Bereich der Korruption. Durch ein Verbot wollen wir mögliche Interessenskonflikte von vorneherein ausschließen.

 

Ein komplettes Verbot dürfte kaum zu erreichen sein.

Reyher: Uns geht es vor allem um Transparenz: Parteispenden sollten sehr viel früher veröffentlicht werden. Nur so kann man erkennen, ob eine Spende im Zusammenhang mit einer politischen Entscheidung steht. Ich erinnere nur an die Mövenpick-Parteispende an die FDP: Da gab es kurz darauf – angeblich zufällig – ein Gesetz, von dem der Spender profitierte.

Röse: Zurzeit müssen Parteispenden erst ab 50.000 Euro sofort veröffentlicht werden. Kleinere Beträge tauchen erst in den Rechenschaftsberichten auf – mitunter bis zu zwei Jahre später. Manche Firmen teilen ihre Spenden gezielt auf, um unter dieser Grenze zu bleiben.

 

Momentan verklagen Sie den Bundestag, damit der offenlegt, welche Lobbyisten einen Hausausweis haben.

Reyher: Im Bundestag gehen rund 1.000 Lobbyisten ein und aus – mit einem von den Fraktionen bewilligten Hausausweis. Aber niemand weiß, wer sie sind und für wen sie arbeiten. Deshalb haben wir die Fraktionen gefragt, welche Lobbyisten sie in den Bundestag lassen. Bei Grünen und Linkspartei sind das meist Gewerkschaften und Umweltverbände. Die Regierungsfraktionen weigern sich aber, ihre Lobbyisten zu nennen. Deshalb verklagen wir jetzt die Bundestagsverwaltung auf Herausgabe der Namen.

 

Was wäre eine Wunschvorstellung für abgeordnetenwatch.de in zehn Jahren?

Reyher: Wir wünschen uns natürlich, dass es das Portal dann gar nicht mehr braucht. Weil wir dazu beigetragen haben, dass es in den Parlamenten keine Missstände mehr gibt und im Bundestag nur noch Politiker sitzen, die bürgernah sind und keinen Nebentätigkeiten mehr nachgehen – dass wir uns also überflüssig gemacht haben.

 

Und realistischerweise?

Reyher: Ich glaube nicht, dass es in zehn Jahren so weit kommen wird. Die Beharrungskräfte in der Politik sind groß. Da liegt noch viel Arbeit vor uns.

Foto: Peter Neitzsch

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