Idealismus plus Professionalität

Vier Leute Mitte zwanzig, drei Männer und eine Frau, beschließen, 10 000 Kilometer mit dem Fahrrad nach Indien zu fahren. Ziel ist es, damit Gelder für Trockentoilet­ten für eine Gemeinde in der Nähe der Uni­versitätsstadt Pune zu sammeln. Das Team von „Guts for Change“ ist im April letz­ten Jahres gestartet. Seitdem haben sie viel er­reicht. Mitte Juni sind sie für ihre Be­mü­hun­gen mit dem Son­der­preis des Deut­schen Preises für Wirt­schafts­kom­mu­ni­ka­tion geehrt worden. Das hat seinen guten Grund.

von Rico Stehfest

Für Bewohner der westlichen Welt ist es kaum vorstellbar, dass Millionen von Menschen keinen Zugang zu sanitären Anlagen haben. In Indien sind das fast dreiviertel der Bevölkerung. Wenn offene Latrinen genutzt werden, und das auch noch von einer enorm hohen Zahl von Menschen pro Latrine, birgt das nicht nur gesundheitliche Risiken. Typhus ist da an der Tagesordnung. Zusätzlich wird das Grundwasser durch Einsickern der Fäkalien belastet; Flusswasser ist nachgewiesenermaßen nicht trinkbar. Eigentlich. Nur fehlt es nicht selten an Alternativen. Zu dieser Konstellation kommen in Indien noch geologische und klimatische Unwägbarkeiten, die die tra­di­tio­nel­le Sub­sis­tenz­wirtschaft ohnehin schwierig ge­stalten. Karge, steinige Böden und Was­ser­knappheit nicht nur in der heißesten Zeit des Jahres. Auf solchen Böden sind Ernte­erträge dürftig. Wenn dann noch die Brun­nen für Trinkwasser in Privatbesitz sind und das lebensnotwendige Nass teuer er­kauft werden muss, erscheint die Lage aus­sichts­los. Trockentoiletten, also Toiletten, die gänzlich ohne Wasserspülung funk­tio­nie­ren, können in einer solchen Situation zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die Fä­ka­lien werden gesammelt und belasten da­durch nicht mehr unkontrolliert den Boden. Urin und Kot werden bereits durch den Aufbau der Toilette getrennt. Ersteres lässt sich problemlos als äußerst wirksamer Stickstoff-Dünger auf das eigene Feld aufbringen. Die Feststoffe, auch Fäzes genannt, werden ohne großen Aufwand innerhalb kürzester Zeit kompostiert und sind als ausgewogener Dünger nicht mit Gold aufzuwiegen.

Wie aber kann man ein derartiges Pro­jekt rea­li­sie­ren? Wie gelangt man an die nötige Fi­nan­zie­rung? Um tatsäch­liche Nach­hal­tig­keit einer solchen Un­ter­neh­mung zu er­rei­chen, braucht man in erster Linie langfris­ti­ges Denken.

Mut zum Mut

Auf jeden Fall erreicht man vorstellbar wenig, wenn man sich als Idealist und blauäugiger Träumer in den Sattel schwingt. Auch, wenn Maushami, Thomas, Erik und Johann gleich zu Anfang ihre so ganz eigenen Erfahrungen auf den zwei Rädern machen mussten. Die Übernachtungen in den viel zu klein gewählten Zelten ist beispielsweise für Maushami Chetty das erste Zelterlebnis überhaupt gewesen. Un­trainiert, aber hochmotiviert sind sie in die Pe­da­le getreten und staunten bei ihrer Tour von Berlin aus gen Süden bereits unmit­tel­bar hinter der tschechischen Grenze über tat­säch­lich gefühlte Exotik. Die Route wurde bewusst über Passau gelegt. Johann Angermann hat dort ein gutes Netzwerk. Auf dem Campus der Uni gab es eine öffentlichkeitswirksame Veranstaltung mit Bier, Musik und einem Buchverkauf.

Die Frage ist nur: Bekommt man auf diese Weise 10 000 Euro für 50 Trockentoiletten zu­sammen? „Guts for Change“ und ihre Part­ner haben bereits nach kurzer Zeit die Latte höher gehängt. Das neue Ziel lautete ab sofort 15 000 Euro. Zu Redaktionsschluss war der Topf fast vollständig gefüllt. Was noch fehlte, war lediglich ein kleiner Rest. Geschafft haben sie das aber nicht allein mit ihren Fahrrädern. Ihr Geheimnis lautet: Nutzung sämtlicher medialer Kanäle und gutes Timing. Ihren Preis haben sie also zurecht erhalten.

Funken auf allen Kanälen

Vernetzung und Partnerschaften sind die Grundlage jeglichen Erfolges. Mit im Sattel saß und sitzt noch immer in Indien die Ecosan Service Foundation. Deutsche Partner sind der German Toilet Organization e. V. und der Non-Water Sanitation e. V., deren Vertreter Sven Riesbeck die Fahrrad-Kam­pag­ne über betterplace.org sozusagen von der Hombebase aus begleitet hat, indem er immer wieder Updates über die Pro­jekt­entwicklungen in Indien auf die Seite stellte. Das gesamte Vorhaben war nämlich auf dem Prinzip einer gewissen Gleichzeitigkeit aufgebaut. Während vier Fleißige über die Kontinente radelten, wurden in Indien bereits die ersten Pro­jekt­ge­spräche geführt. Es wurde sehr schnell sicht­bar, dass die Finanzierung erfolgreich an­läuft. Nicht zuletzt deshalb haben sich alle Beteiligten für einen teilweisen vorzeitigen Mitteleinsatz entschieden: Alles detailliert und für jeden nachvollziehbar im Internet dokumentiert. Schließlich war das Projekt ja noch nicht komplett finanziert. Auch das ist als weiterer Anreiz für potenzielle Unterstützer zu lesen: Die tun was. So geht Transparenz heute.

Hier wird der Kern der Aktivitäten sichtbar. Die Radtour selbst war nur eins von vielen Instrumenten, eine Art aufmerksamkeitsstarkes Vehikel, an dem sich die Kampagne festmachen ließ. Solange die vier nach Indien unterwegs waren, konnte man auf die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zählen. Natürlich immer vorausgesetzt, dass die hierfür nötige Öffentlichkeitsarbeit geleistet wird. Genau das hat das Team geschafft.

Immer drüber reden

Thomas Jakel hat Erfahrungen als Blogger. Johann Angermann ist im journalistischen Bereich breit aufgestellt. Erik Fährmann betreute den Social Media Bereich. Stichwort Mar­keting Communication. Man könnte sie durchaus Profis nennen. Liest man noch einmal ihren umfangreichen Blog über ihren sechsmonatigen Trip sieht man sofort, dass sie von Anfang an genau wuss­ten, was sie taten. Das Treten in die Pedale wirkt fast schon nebensächlich, so­viel Zeit investierten die vier in die Do­ku­men­ta­tion ihrer einzelnen Etappen, in den Schnitt von Videoclips und nahezu täg­liche Updates. Skype, facebook, twitter. Alle Kanäle wurden genutzt. Betterplace.org als Crowdfunding-Plattform für das Pro­jekt klingt da schon fast selbstverständ­lich. Das obligatorische Video dazu wur­de allerdings erst in Passau fertig gestellt. Zu jenem Zeitpunkt gab es ja bereits do­ku­men­ta­ri­sches Material, das für den Clip wirksam eingesetzt werden konnte. Gleich­zei­tig wurde sichtbar, dass hier keine Schnaps­idee finanziert werden sollte: Die vier waren ja bereits unterwegs.

Begleitung in Echtzeit

Auch alle anderen Videoclips, die immer wieder kleine Episoden on the road dokumentieren sind geschickt gemacht. Sie sind personalisiert, stellen also immer wieder konkrete Personen in den Vordergrund, direkte Begegnungen. Außerdem sind sie jeweils mit Musik unterlegt, die äußerst geschickt konkrete regionale Bezüge aufweist. Und was macht man am Ende mit dem ganzen Videomaterial? Die Antwort ist simpel, solange man langfristig und in gewisser Hinsicht quer denkt. Auf startnext.de haben „Guts for Change“ während ihrer Tour ein zweites Crowdfundingprojekt gestartet. Dieses Mal für einen Dokumentarfilm über die Radtour. Dadurch wurde mit leichter Varia­tion ein weiterer Kanal zur Fi­nan­zie­rung aufgetan. 3 500 € waren hier das Ziel, das nach den angesetzten dreißig Tagen Laufzeit mit 118 Prozent übererfüllt war. Als Goodies gab es für die Spender bei­spiels­weise Tickets für die Premiere des Films. Angesichts dessen kann man kaum Johanns Worten glauben, dass dies ein Ex­pe­ri­ment für sie gewesen sei, bei dem auch sie noch einiges lernen mussten. Jetzt, da die Radler längst wieder zuhause sind, zahlt sich die detaillierte Dokumentation weiterhin aus. Im Juni wurde der Film noch einmal in Berlin und Greifswald gezeigt. Ende Juli wird er bei den Freiburger Filmfestspielen zu sehen sein. Damit wird also weiter Fundraising betrieben.

In Indien läuft das Projekt, inklusive der üblichen Schwierigkeiten wie Wet­ter­kapriolen oder kulturelle Unter­schiede in den Mentalitäten. Nach intensiver Un­ter­su­chung der lokalen Gegebenheiten inklusive Boden- und Wasserproben sowie inten­siven Gesprächen mit der Bevölkerung sind bereits mehr als zehn Toiletten in­stal­liert worden, 25 sind das aktuelle Ziel. Teil des Projektes sind unter anderem Hy­gie­ne­schulungen, auch für Kinder. Die weitergehende Betreuung durch den Partner vor Ort ist bis mindestens 2014 garantiert.
Über bengo wurden in diesem Jahr zusätz­liche Gelder beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent­wick­lung (BMZ) beantragt. Ein Ei­gen­anteil von 5 000 Euro aus den gesammelten Spen­den würde weitere 25 000 Euro vom BMZ er­mög­lichen.

www.gutsforchange.de

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